Lebensbegleitung alter Menschen - Ruth Alder-Waser

Title
Direkt zum Seiteninhalt
Lebensbegleitung alter Menschen




Vorwort


Früh sterben oder alt werden?

Mit Erstaunen erkennen wir, dass tatsächlich nur diese Alternative für uns bleibt. Wollen wir nicht alt werden, so müssen wir früh sterben. Überleben wir unsere Kindheit, Jugend und das sogenannte beste Alter, so kommen wir unweigerlich in Entwicklungsbereiche des menschlichen Lebens, die wir im bisherigen Leben nur mit Unverständnis, Befremden, manchmal sogar auch angewidert zur Kenntnis genommen haben. Wir sehen Verlust, Abbau, Schwäche und unterscheiden uns damit kaum von den Autoren des Rheinischen Conversations Lexicons von 1837:

Das Greisenalter ist bei Frauen und Männern vom 50. und 60. bis zum Lebensende dauernd. In dieser Periode hört das Fortpflanzungsvermögen auf und Körper und Geist werden schwach und kraftlos. Während der verschiedenen Perioden seines Lebens bietet der menschliche Körper, ..., ein fortwährendes Oscillieren und Balancieren in Rücksicht seiner Lebenskraft dar.-...
In dem Greisenalter werden die festen Theile steif und trocken; die Triebkraft ermattet, die Reizbarkeit und Empfindlichkeit nimmt ab, die flüssigen Theile werden zur Ernährung immer weniger geschickt und trocken in ihren kleinen Kanälen ...daher ferner beim Greise jene Anlage zum Schlagflusse, Blödsinne, zur Abzehrung und zu vielen anderen mehr oder mindergefährlicher Krankheiten»

(Rheinisches Conversations Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. Herausgegeben von einer Gesellschaft rheinländischer Gelehrten, Köln 1837)

Die Altersspanne hat sich in den vergangenen 150 Jahren deutlich ausgeweitet, wir werden später alt, wir sind länger alt. Das Ende des Lebens wurde weiter hinausgeschoben, die aktive Lebensspanne deutlich erweitert. Dies sind verwirklichte Wünsche, die viele Generationen vor uns hatten, Wünsche, mit deren Auswirkungen wir uns jetzt konfrontiert sehen.
Die neue Altersdiskussion in Politik und Gesellschaft zeigt die «Kehrseite der Medaille». Von einer «Überalterung» der Gesellschaft wird gesprochen, vom Aufkündigen des Solidaritätsvertrages der Generationen, davon, dass die Alten verbrauchen was die Jungen nicht mehr schaffen können. Immer deutlicher wird, dass die Alten als Last gesehen werden, dass die Jungen diese Last nicht mehr länger bereit sind zu tragen. An vielen Stellen kann man spüren, dass die Jüngeren hinter vorgehaltener Hand deutlich werden lassen, die Alten hätten ja nun wirklich genug Leben gelebt, es sei Zeit ein Ende damit zu machen. Konkreter finden wir dies in den Niederlanden, bei unseren pragmatischen Nachbarn, wo aktive Sterbehilfe im Alter diskutierbar und dann auch machbar wurde. Wer nicht mehr leben will, dem kann nun final geholfen werden. Wie es aber dazu kommt, dass ein Mensch nicht mehr leben möchte, dies wird nur selten hinterfragt. Das Alter selbst ist es sicherlich nicht, es ist der Umgang mit dem Alter und seinen Begleitprozessen, der das Leben nicht mehr lebenswert erscheinen lässt.

Im Konzept der Basalen Stimulation haben wir uns von Anfang der zentralen Aufgabe gestellt, das Leben hier und jetzt für Menschen mit Behinderungen, für Menschen mit schweren Erkrankungen und eben auch für Menschen mit Altersbeeinträchtigungen lebbar zu machen. Wir konnten durch Beobachtungen erkennen, dass viele scheinbar zwangsläufig zum Alterungsprozess gehörende Erscheinungen wie Verwirrtheit, Wundliegen, Ernährungsstörungen auch etwas damit zu tun haben, wie mit diesen alten Menschen umgegangen wird, welche Interaktion und Kommunikation ihnen geboten und welche ihnen vorenthalten wird.
Mit unserem Konzept konnten wir zeigen, dass Leben auf jedem Aktivitätsniveau lebenswert sein kann, wenn es gelingt, eine befriedigende Interaktion und Kommunikation zwischen der betroffenen Person und seiner sozialen Umwelt herzustellen. Die Beeinträchtigung liegt nicht ausschließlich beim betroffenen Individuum, sie lässt sich schon gar nicht auf organische Veränderungen allein reduzieren, sondern sie ist immer etwas, was sich in der Begegnung zwischen Menschen ereignet. Wenn die Möglichkeiten eines Menschen und die Erwartungen, die man an ihn und sein Verhalten stellt, nicht mehr übereinstimmen, dann kommt es zu Problemen, dann wird dieser Mensch in seinem Leben und auch in seiner weiteren Entwicklung beeinträchtigt. Es liegt also nicht nur an ihm, sondern immer auch an denen, die Erwartungen formulieren, die Erwartungen in ihre alltäglichen Handlungen einfließen lassen. Verweigern sie eine angemessene Erwartung und eine angemessene Art der Begegnung, so machen sie dem betroffenen alten Menschen das Leben unerträglich. Sie können es ihm so unerträglich machen, dass ihm der Tod als die bessere Alternative erscheint.
Voller Schrecken müssen wir in der Bundesrepublik Deutschland zur Kenntnis nehmen, dass unser Sozial- und Pflegesystem an vielen Stellen ganz erheblich zu wünschen übrig lässt.
Alexander Frey, Mitglied des Forums und Sprecher des Arbeitskreises gegen Menschenrechtsverletzungen am 18. März 2001 vor den Mitgliedern des Komitees für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte:
«... in der Bundesrepublik Deutschland leben ca. 400000 Menschen in Pflege-abteilungen von Altenheimen. Mehr als die Hälfte dieser Bewohner ist psychisch krank oder altersdement.»
Untersuchungen der Medizinischen Dienste der Krankenkassen und die Recherchen einer Reihe von privaten Organisationen haben ergeben, dass in den Einrichtungen erhebliche Defizite bestehen:
1. Ca. 85 % der Bewohner sind unterernährt, dafür das Personal oft keine Zeit besteht, Hilfestellung beim Essen zu leisten oder die Ernährung nicht altengerecht ist.
2. 36 % der Bewohner leiden an Austrocknung, da sie nicht genügend zu Trinken erhalten.
3. Aufgrund der schlechten Ernährungssituation und auf Grund der Tatsache, dass die Bewohner oft über längere Zeiträume nicht gewaschen oder geduscht werden, entstehen offene Wunden. 25 % der Bewohner leiden an Dekubitusstellen (offene Wunden). 5 % leiden an schweren Dekubitus. Demnach sind ca. 20000 Heimbewohner einem ähnlichen Dekubitus ausgesetzt, wie er auf dem von mir mitgebrachten Bild zu sehen ist. Die Bewohnerin erhielt auf Grund der nachweisbar falschen Pflege 46000 DM Schmerzensgeld.
4. Es werden Katheder gelegt, um die Menschen nicht auf die Toilette bringen zu müssen. Es werden Magensonden gelegt, um keine Hilfestellung beim Essen leisten zu müssen.
5. Es werden starke Psychopharmaka zur Ruhigstellung gegeben. Zeit für Zuwendung, z. B. bei der Sterbebegleitung bleibt nicht.
6. Kritiker erhalten Hausverbote, das Akteneinsichtsrecht in die Akten der Kontrollorgane wird verweigert, um die Möglichkeit von gerichtlichen Schritten durch die Heimbewohner auszuschließen.
7. Ca. 400000 freiheitsentziehende Maßnahmen, z. B. Festbinden von Personen, starke Psychopharmaka, werden täglich durchgeführt. Dies geschieht oft ohne richterliche Genehmigung, entgegen der in der Bundesrepublik bestehenden Gesetzeslage.

B. Nach einer Untersuchung eines großen Verbandes mit 500000 Mitgliedern (Sozialverband Deutschland) sterben in den Pflegeheimen bundesweit ca. 10000 Menschenjährlich auf Grund der verheerenden Pflegesituation.
Zu Unrecht weist die Bundesregierung darauf hin, dass es sich hier um «bedauerliche Einzelfälle» handeln würde und die Pflege insgesamt «optimal» sei. Ein Pflegeschlüssel von 1:2,8 der in der Bundesrepublik üblich ist, bedeutet, dass 28 schwerstpflegebedürftige Menschen rund um die Uhr in 3 Schichten gepflegt werden. Bedenkt man Urlaub, Krankheit, Fortbildung usw. kommt man zu der Situation, dass 28 Schwerstpflegebedürftige von höchstens 2 oder 3 Personen gepflegt werden und die tatsächliche Pflege pro Person nicht einmal 1 Stunde am Tag beträgt. Unter diesen Bedingungen ist eine menschliche Pflege nicht möglich! Die Bundesrepublik Deutschland hat ein Heimbewohnerschutzgesetz und ein Qualitätssicherungsgesetz vorgelegt, das jedoch keine Verbesserung bringen wird, da im Gesetz nicht geregelt ist, wie viel Personal künftig für wie viele Bewohner angestellt werden soll und wie viel Personal tatsächlich für jeden Bewohner vorhanden sein muss.
Das Komitee gibt mit Datum vom 37. August 2001 seiner großen Sorge Ausdruck über die menschenunwürdigen (inhumanen) Bedingungen in Pflegeheimen, infolge von strukturellen Mängeln (Schwächen), im Pflegebereich, wie dies vom medizinischen Dienst (den medizinischen Diensten) der Krankenkassen (MDS) bestätigt worden ist. Das Komitee drängt die Bundesrepublik dringende Maßnahmen zu ergreifen, um die Situation der Patienten in Pflegeheimen zu verbessern».

Ein Land, das Menschenrechtsverletzungen anprangert, das «uneingeschränkte Solidarität» propagiert, sollte diese Solidarität auch mit seinen altgewordenen Mitbürgern pflegen.

Die Autoren des vorliegenden Buches haben in vielen Jahren Erfahrungen mit dem Konzept der Basalen Stimulation und seiner Anwendung bei alten Menschen sammeln können. Sie haben dieses Konzept theoretisch reflektiert und immer wieder neu den Praxisanforderungen angepasst. Ich danke Ihnen für dieses Engagement und dafür, dass Sie Ihre Erfahrungen jetzt in einem mühevollen Prozess in die schriftliche Form gebracht haben. Ich bin der Überzeugung, dass im Bereich der Versorgung, Pflege und Förderung alter Menschen, eine der großen Zukunftsaufgaben liegt. Eine Gesellschaft, die das Altwerden fürchten muss, weil Sie sieht, dass Sie dann nur noch inhumane Angebote bereithält, kann keine gesunde, stabile und zukunftsorientierte Gesellschaft sein. Denn unsere Zukunft, unsere individuelle Zukunft ist immer das Alter. Mit einer Anregung, Versorgung und Pflege nach basalen Prinzipien wird es möglich sein, alten Menschen ihren Tag orientiert und präsent erleben zu lassen. Sie können mit ihren Angehörigen eher Kontakt aufnehmen und halten, sie können sich selbst spüren und verlieren sich nicht in Desorientierung und Verwirrtheit.

Die Würde des Alters steht in einem engen Bezug zum würdigen Umgang mit alten Menschen. Ihnen das zu geben, was sie jetzt in ihrer Situation der eingeschränkten Aktivität, der eingeschränkten Wahrnehmung, der reduzierten Kommunikationsfähigkeit brauchen, ist Menschenpflicht. Es ihnen vorzuenthalten ist eine Verletzung ihrer Menschenrechte.



Ich wünsche mir sehr, dass das Buch von Thomas Buchholz und Ansgar Schürenberg eine breite Leserschaft findet, dass Pflege, sowohl Kranken- wie Altenpflege, sich der Grundprinzipien bedient, um ihren Klienten ein würdiges Alter möglich zu machen.

Landau/Kaiserslautern im Frühjahr 2002
Andreas Fröhlich


Thomas Buchholz / Ansgar Schürenberg


Verlag Hans Huber
Lebensbegleitung alter Menschen
ISBN 3-456-83296-6


Zurück zum Seiteninhalt